Die Auschwitz-Überlebende Erna de Vries aus Lathen ist im Alter von 98 Jahren gestorben. Sie starb zwei Tage nach ihrem Geburtstag am 23. Oktober. Bereits 2006 gab sie uns ein Interview.
Erna de Vries, geborene Korn, wurde am 21.10.1923 als Kind eines Protestanten und einer Jüdinin Kaiserslautern geboren und in jüdischem Glauben erzogen. Trotz des frühen Todes ihres Vaters 1931 verbrachte sie anfangs eine recht unbeschwerte Kindheit, bis sie nach der Machtergreifung Hitlers 1933 immer häufiger angefeindet wurde. Den vorläufigen Höhepunkt der Anfeindungen stellte die Reichspogromnacht am 9. November 1938 dar, in der das Heim der Familie Korn zerstört wurde. „Ich bemerkte auch, dass meine Mutter hilflos war, wie mehr oder weniger alle Juden, und dass sie mir nicht mehr helfen konnte. Von da an bin ich nicht mehr mit meinen kleinen Sorgen zu ihr gekommen (…)“
Im Juli 1943 sollte ihre Mutter deportiert werden. Erna begleitete ihre Mutter freiwillig und kam mit ihr zusammen Ende Juli 1943 in das KZ Auschwitz-Birkenau. Aufgrund einer nicht heilenden Verletzung an den Beinen, verursacht durch Zwangsarbeit und den katastrophalen hygienischen Verhältnissen, wurde sie zwei Monate später in den Todesblock 25 verlegt. Unmittelbar vor ihrer Hinrichtung wurde sie als so genannter „Mischling“ verschont und ins KZ Ravensbrück gebracht, wo sie bis zur Räumung im April 1945 im angegliederten Siemenslager arbeitete. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges lebte sie in Köln, wo sie auch ihren Mann Josef de Vries kennen lernte, den sie 1947 heiratete. Josef de Vries war insgesamt sechs Jahre in drei verschiedenen Konzentrationslagern, zuletzt auch in Auschwitz. Mit ihm ging sie dann zurück in seinen Heimatort Lathen, wo sie auch heute noch lebt. Seit 1997 erzählt sie öffentlich von ihrem Schicksal.
Frau de Vries, wie kam es dazu, dass Sie 1997 an die Öffentlichkeit getreten sind?
Ein junger Historiker aus Kaiserslautern kam auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit wäre, in einem Vortrag der Volkshochschule meine Geschichte zu erzählen.
Benötigten Sie die Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten?
Ich habe vorher immer mit meinem Mann davon gesprochen, mit den Kindern eher nicht. Sonst hatte mich bis dahin einfach niemand öffentlich gefragt.
Wie sind Sie und Ihre Kinder mit ihrer Geschichte umgegangen?
Sie haben nie nachgefragt, es war eine Art gegenseitige Rücksichtnahme. Wir
wollten die Kinder nicht belasten, sie wollten uns nicht verletzen. Einen wirklichen Austausch gabes erst, als sie schon um die 40 waren.
Würden Sie die Reichspogromnacht als Ende Ihrer Kindheit bezeichnen?
Vielleicht, ich wurde erwachsen in Bezug auf meine Mutter, ich wusste von da an, dass sie mir nicht mehr helfen konnte, ich musste sie jetzt stützen. Ansonsten war ich aber noch ein Kind von 15 Jahren, wir wurden ja von allem gesellschaftlichen Leben ferngehalten und isoliert.
Betraf dies auch das direkte Umfeld, die Nachbarn und die Familie?
Ja, natürlich, eine Nachbarin kam bis 1935 jeden Abend, dann hat auch sie
sich zurückgezogen.
Wurde sie von der NS-Propaganda überzeugt, oder wieso hat sie sich zurückgezogen?
Nein, man hatte ihr gedroht, sie anzuzeigen, sie hatte Angst. Es war keine
persönliche Motivation, sondern Angst vor Sanktionen, wirtschaftlichen Nachteilen und Verfolgung.
Wie kam es zu ihrer Deportation?
Als meine Mutter abgeholt werden sollte, habe ich den GeStaPo-Leiter angefleht, mich wenigstens mit nach Saarbrücken zu nehmen.
Wie konnten Sie ihn überzeugen?
Ich habe ihm ganz flapsig gesagt, dass es doch eh nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie mich auch holen. Wenn sie mich gleich mit nähmen, wäre es doch ein Abwasch. Das hat ihn überzeugt un dich konnte meinen gepackten Koffer holen und mitkommen.
Sie hatten die Koffer also schon gepackt und jeden Tag damit gerechnet, abgeholt zu werden? Wie lebt es sich mit dem Gedanken? Wie motiviert man sich dann noch, das„normale“ Leben weiterzuleben? In dem Alter glaubt man noch nicht an seinen eigenen Tod. Ich habe immer BBC London gehört und wusste genau, was in Auschwitz ablief. Darauf war ich gefasst, ich hatte nur immer Angst,dass meine Mutter geholt wurde und ich davon nichts erfahre. Daher auch der Job in der Esengießerei, die war nah zu Hause. Aber wenn ich nur einen Funken Hoffnung hatte, bekam ich schon wieder Oberwasser.
Sie wussten also genau, was die „Endlösung“ bedeutete?
Das wusste man seit den ersten Deportationen in der Pfalz 1941.
Wusste auch die ganze Bevölkerung davon?
Ich habe es als 19-jährige gewusst. Wer es wissen wollte, brauchte nur ein bisschen Mut, das Radio aufzudrehen und einen ausländischen Sender hören. Aber die Menschen waren durch den Krieg mit sich selbst befasst, sie haben es gewusst aber wahrscheinlich verdrängt.
Wieso sind Sie mit diesem Wissen freiwillig mit nach Auschwitz gegangen?
Ich konnte und wollte meine Mutter nicht im Stich lassen, auch sie ist wegen ihrer Mutter in Deutschland geblieben und nicht ausgewandert. Vielleicht war dies mein Vorbild. Ich glaube auch nicht, dass ich nach dem Krieg hätte weiterleben können, wenn ich meine Mutter verlassen hätte. Das wäre mir wie Verrat vorgekommen.
Haben Sie auch während Ihrer Zeit in Auschwitz so gedacht?
Nein, in Auschwitz habe ich nicht gedacht. Da ging es nicht darum, von heute auf morgen zu überleben, sondern von Stunde zu Stunde. Da war man nur mit sich selbst befasst
Wie haben Sie sich in der Nacht im Todesblock 25 gefühlt und verhalten?
Sie wussten von ihrer nahen Hinrichtung?
Wir wussten davon, die Lichter blieben voll an, es gab kein Essen, keine
Toilettenbesuche. Ich weiß nur noch, dass alle Kojen besetzt waren und ich unter solch eine gekrochen bin. Sonst weiß ich nichts mehr, nicht einmal, ob ich geschlafen habe oder ob ich bewusstlos war.
Wann haben Sie wieder an Ihre Mutter gedacht?
Diesen Gedanken habe ich völlig weg geschoben, selbst als ich wusste, dass ich nicht ins Gas gehe, habe ich noch nicht an sie gedacht. Dann kam eine Läuferin, also jemand, der geschickt wurde, um mich ins Krankenrevier zu bringen. Krankenrevier in Auschwitz war so gut wie Tod, da dachte ich, jetzt ist die Falle doch wieder zu. Dort war dann eine Frau aus dem Block meiner Mutter. Diese sagte mir dann, dass meine Mutter schnellstens erfahren müsse, dass ich noch lebe und dass wir sie abhalten müssten, ans elektrische Stacheldraht zu gehen. Da erst fiel mir meine Mutter wieder ein, da erst konnte ich wieder denken. Ich habe ihr dann ein paar Worte geschrieben und wollte sie auch wieder sehen. Das habe ich dann auch geschafft. Bei der Gelegenheit hat sie mir dann auch das gesagt, was immer wieder erwähnt wird: „Du wirst überleben und erzählen, was man mit uns gemacht hat.“
Sie haben 2006 gesagt:„Ich habe immer geglaubt, wenn man zusammen ist, kann man einander helfen. Aber das war ein Trugschluss. Es war schließlich so, dass einer litt mit dem Leiden des anderen.“Wäre es einfacher gewesen, wenn sie getrennt gewesen wären?
Nein, ich wäre seelisch daran zugrunde gegangen, wenn ich nicht gewusst hätte, wie es ihr geht.
Wie haben Sie sich verabschiedet? Wussten Sie, dass es ein letzter Abschied sein würde?
Sie war erst glücklich, sehr glücklich, dass ich lebte und ist mit mir auf die Lagerstraße gegangen.Ich habe noch gesagt, wir drehen uns nicht um, ich musste weitergehen, sie zurückgehen. Zuletzt standen wir 300-400 Meter auseinander, haben die Arme zum Abschied gehoben. Wir haben beide nicht geweint, aber wir wussten, dass wir uns nicht mehr wieder sehen würden.
Beim letzten Appell kurz vor Ihrer Vergasung haben Sie sich auf die Erde fallen lassen und gebetet: „Lieber Gott, ich möchte leben, aber wie du willst.“ Glauben und glaubten Sie an Gott?
Ich wurde nicht sehr religiös erzogen, aber ich habe an einen Gott geglaubt. Erst später, mit der gesellschaftlichen Isolation habe ich mehr über den jüdischen Glauben erfahren. Dies hat mir zugesagt, fehlte mir vielleicht auch vorher unbewusst. Auch heute bin ich kein frommer Jude, aber gläubig.In dem Moment des letzten Appells konnte ich mich fallen lassen. Dies hat mir genug Halt gegeben, dass ich nicht verzweifelte. Ich bin froh und dankbar, dass ich glauben kann. Dies hat mir die Kraft gegeben in einem Moment, wo kein Mensch mehr einen Pfennig für mein Leben gegeben hätte.Ich zweifle nicht, dass es ein Wesen über uns gibt, habe aber keine Vorstellung davon. Aber wenn ich nach draußen in die Natur sehe, denke ich, es muss etwas geben, was dies alles geschaffen hat.
Haben Sie nie das Bedürfnis nach Rache, Vergeltung, Gerechtigkeit empfunden?
Nein, merkwürdigerweise habe ich nie daran gedacht. Damals in Kaiserslautern war eine Frau, sie hat ausgespuckt, wenn sie uns gesehen hat, in der Pogromnacht rief sie: “Schmeißt sie [Erna] doch mit rein in den Krempel!“ Diese habe ich im November 1945 in Kaiserslautern wieder getroffen. Ich habe mich an einem Sims festgehalten, die Knie wurden weich. Sie ist mit niedergeschlagenen Augen an mir vorbei gegangen. Ich konnte kein Glied rühren. Mir war klar, dass wir ungerecht behandelt wurden, aber ein Bedürfnis nach Rache habe ich nie gehabt, ich weiß auch nicht, warum.
War es vielleicht einfach genug Leid? Zuviel, um weiteres Leid durch Vergeltung zu verursachen?
Ja, vielleicht unausgesprochen, nicht so durchdacht, aber rein gefühlsmäßig schon. Toleranz und Akzeptanz anderer Religionen und Lebensweisen sind mir sehr wichtig, vermutlich, weil ich es selber anders erfahren habe.
Gibt es gerechtes Leid?
Ich kann das nicht beurteilen, aber nein, vielleicht sowas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Manche sagen, Rache ist Sein [Gottes].
Was empfinden Sie, wenn Sie heutzutage die Aufmärsche der politisch Rechten sehen?
Es macht mir Sorgen. Aber ich hoffe auf den Verstand der Menschen, dass sie wissen, was daraus geschehen kann. Mir ist klar, dass die 1945 nicht alle weg waren, die wurden wieder eingesetzt,weil man sie brauchte. Es könnte schon sein, dass die wieder Erfolg haben werden. Die Vorstellung ist fürchterlich, aber wenn man sieht, wie verführbar die Menschen sind, ist es nicht gänzlich auszuschließen.
Können Sie ihrem Schicksal auch etwas Gutes abgewinnen?
Ein Dichter hat einmal gesagt: „Es gibt nicht nur Disteln in meinem Garten, sondern auch Rosen.“Ich habe in der Zeit nach 1945 viel Gutes erfahren, mein Mann, Kinder, Enkel. 65 Jahre wurden mir noch geschenkt, die meisten davon glücklich und gesund.Ich möchte, dass die Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, so etwas darf sich nicht wiederholen. Ich möchte, dass die jungen Menschen die Augen offen haben für Unrecht und nicht wegschauen.
Sie sind jetzt 84 Jahre, hatten Brustkrebs und tragen einen Herzschrittmacher. Haben Sie Angst vor dem Tod?
Angst vor dem Tod nein, aber schon Angst vor einer schlimmen Todesart, vor langem Leiden. Ich habe mein Leben gelebt, wer weiß, was dann kommt. Vielleicht kommt gar nichts, ich hoffe aber,dass etwas kommt.
Frau de Vries, ich danke Ihnen ganz herzlich für ein beeindruckendes, aber auch
bedrückendes Gespräch.